Eine Betrachtung über die Kanzel als Kunstwerk.

Dieses großartige Schnitzwerk stammt aus der Werkstatt des waldeckischen Künstlers Josias Wolrad Brützel, der von 1653 bis etwa 1733 gelebt hat und seine Tätigkeit in seinem Heimatort Immighausen südlich von Korbach ausübte. Das Werk selbst ist im Jahre 1697 entstanden, wie eine Zahl am unteren Rand des Korpus bekundet. Das war eine Zeit, die viel Leid und Entbehrung erlebt hatte, Fünf Jahrzehnte waren seit dem Dreißigjährigen Kriege vergangen. Die Schäden und Verluste an Menschen und Sachen waren vermutlich noch immer zu spüren, auch für die neue Generation, die inzwischen herangewachsen war.

Umso erstaunlicher dieses füllige, fast überbordende, vitale Werk! Aber ist es nicht verständlich, dass ein Künstler nach den schlimmen Erfahrungen des Jahrhunderts Befreiung sucht in der Darstellung von etwas Vollständigem, Heilen und Ganzen? Der Stil des Barock, der die Kanzel prägt, ist wohl auch in diesem Sinne zu verstehen. Künstlerisch und stilistisch ist der Kontrast zum Kruzifix aus dem 15.Jahrhundert, das sich heute über dem Altar befindet, greifbar. Keines dieser beiden Schnitzwerke wurde ursprünglich für diese Kirche geschaffen, doch hätten sie keinen besseren Platz finden können als den, an dem sie jetzt stehen. Groß und ausladend die Kanzel, streng und sparsam das 200 Jahre ältere Kruzifix, beides gehört jetzt zueinander.

Die Kanzel könnte geradezu für unsere Kirche geschaffen sein. Sie will beachtet werden, und sie fällt als Besonderheit auch sofort ins Auge, wenn man die Kirche betritt. Fast alle künstlerisch gestalteten Gegenstände in einer Kirche, wie ja auch die Kirche selbst, dienen einem bestimmten Zweck. Sie haben eine Funktion im Gotteshaus und im Gottesdienst. So hat auch die Kanzel ihre Aufgabe: Sie bietet dem Prediger den Platz, von dem aus er am besten das ihm aufgetragene Amt der Verkündigung wahrnehmen kann. In der evangelischen Kirche der Reformation Martin Luthers hat die Kanzel darum einen herausragenden Standort. Die Predigt soll möglichst gut zu hören sein; darum muss jeder den Prediger gut sehen können.

Drei deutlich voneinander getrennte Teile nimmt der Betrachter wahr, wobei die eigentliche Kanzel, der Teil auf dem der Prediger steht, das größte optische Gewicht hat. Der Mittelteil tritt zurück mit lediglich einem verzierten Brett im Hintergrund. Aber dieses ist ja der Platz, an dem der Zuhörer den lebendigen Menschen wahrnimmt, der die Botschaft zu vermitteln hat. Der obere Teil dient ursprünglich nur als Schalldeckel. Er hilft der Gemeinde beim Hören und dem Prediger beim Sprechen, indem er die Schallwellen bündelt und nach unten lenkt.

Aber der Künstler hat viel mehr getan als ein akustisches oder optisches Problem zu lösen. Er hat seiner Auffassung von der Bedeutung der Wortverkündigung einen besonderen Ausdruck verliehen.. Schon bei erster, flüchtiger Betrachtung bietet sich die Deutung an, dass der obere Teil mit dem Schalldeckel die himmlische Sphäre beim Vorgang der Predigt symbolisiert, der untere Teil, der „Korpus“, den irdischen Bereich und der Zwischenteil, der für einen lebendigen Prediger offen zu haltende Raum, die Vermittlung zwischen beidem.

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 Barockkanzel des Josias Wolrad Brützel (1697) Foto: Hubert Hahn (1987)

Der obere Teil, der Schalldeckel.

Was über dem Kopf des Predigers sich ereignet, ist unzugänglich und unverfügbar. In der künstlerischen Symbolsprache deuten Engel immer die Macht des Göttlichen und des Himmlischen an. Engel begleiten den allmächtigen, jenseitigen und doch gegenwärtigen Gott. Sie umgeben mit ihrem Lobgesang den ruhenden, mit ihrem Botendienst den lenkenden und mit ihrer Streitmacht den richtenden Herrn. - (Mindestens zwei auf der Stirnseite des Schalldeckels gehörende Darstellungen sind verloren gegangen.) Hier scheinen sie zu wachen und bereit zu sein für alles, was in dieser Stunde der Verkündigung sich entscheidet. Doch weiß man in der Barockzeit die Engel vor allem als freundliche und heitere Wesen zu schätzen und gibt ihnen ein entsprechendes Aussehen.

Auf seiner Unterseite zeigt der sechsseitige Deckel einen zwölfstrahligen, vergoldeten Stern oder Strahlenkranz. Sein Symbol erinnert sowohl an das Ereignis von Bethlehem als auch an die Entsendung der zwölf Jünger in die Welt durch ihren Herrn.

Über dem Haupt des Predigers schwebt ein Flügeltier, von dem man weiß: Es ist die Taube, der Vogel, der in der Kirche seit der Taufe Jesu im Jordan als Sinnbild für den Heiligen Geist steht. Eine Erklärung brauchen wir nicht mehr, denn wir wissen: In jeder Predigt ereignet sich ein Pfingsten, eine Ausgießung und Erfüllung. Was ursprünglich nur als eine technische Verbesserung der Schallübertragung in großen Kirchen gedacht war, wird unter der Hand des Künstlers zu einem geistlichen Geschehen: Der Heilige Geist allein gibt dem Prediger das rechte Wort ein und sorgt dafür, dass es bei den Menschen „ankommt“.

Brützel hat mehrere solcher Kanzeln geschaffen. Aber in keiner anderen als dieser ist das Oberteil derartig phantasievoll gestaltet. Über den Stirnbrettern des Deckel-Sechsecks nochmals ein verzierter Rand, bestehend aus medalionartig geformten Aufsätzen, dazwischen jeweils krug- oder vasenähnliche Drechseleien von beträchtlicher Höhe, die wir nur als Ornamente verstehen können. Aber damit nicht genug. Der leere Raum zwischen den stehenden Verzierungen, für den Betrachter von unten kaum wahrnehmbar, wird nochmals durch einen Mittelaufbau überhöht, der von gewölbten Streben getragen wird und in einem von mehreren Aufsatzbrettern umrahmten Knauf gipfelt. - Das Ganze wirkt in seiner Gesamtheit wie eine Krone, für die es ja in der biblischen Symbolsprache eine Reihe von Beispielen gibt.

Der untere Teil, der Korpus

Hier steht der Prediger, hier hält er sich beim Sprechen fest. Die dreiseitige Brüstung schützt ihn, verbirgt ihn halb und lässt doch seiner Bewegung beim Sprechen genügend Platz, denn ein Prediger spricht immer auch mit seinem Körper, mit Händen und Füssen. Das Buch, die Heilige Schrift, liegt auf dem breiten Rand, an der Vorderseite hochgehalten durch ein Pult. Der Prediger hält sich an das geschriebene Wort, das Zeugnis der Evangelisten, welche Jesu Wort und Werk weitergeben.

Diese Aussage wird durch die Darstellungen auf diesem Hauptteil des Kanzelaufbaus wiedergegeben. Die Prediger kommen und gehen; das Evangelium bleibt.

Eigenartig, jedoch verständlich, die Anordnung der Figuren: Vier Evangelisten, die mit ihren Namen vorgestellt werden, bilden den Vordergrund; Christus selbst, um den es geht, steht etwas abgesondert beiseite. Er ist der Herr. Er braucht nicht vorgestellt zu werden. Jedermann erkennt ihn an dem, was die Hände tun: Die eine hält die Weltkugel, die andere zeigt aufwärts zum Himmel.

Er wird in diesem Fall nicht wie beim Altar-Schnitzwerk als der Gekreuzigte dargestellt. Wo es um die Predigt geht, ist er der Auftraggeber und entsendet seine Jünger. Er lässt sie vortreten, die in seinem Namen handeln und denen er beisteht alle Tage bis an der Welt Ende. Gerade dieses ist das Thema des Kunstwerks.

Etwas vereinzelt, um nicht zu sagen einsam, wirken die vier Evangelisten, die in vier verschiedene Himmelsrichtungen sehen - „in alle Welt“, wie ihnen geboten ist. Der Betrachter kann nicht alle vier Figuren gleichzeitig sehen, er muss dazu den Standort ändern. Jedoch sieht er immer mindestens drei von ihnen. Das Evangelium als Ganzes kennen wir auch nur als den Bericht über den einen Herrn unter vier verschiedenen Gesichtspunkten. Vieles sehen und erkennen wir, anderes bleibt uns verborgen. Das Evangelium erschließt sich uns umso deutlicher, je mehr wir selber uns bewegen und verändern. Wir sind keine starren Klötze, sondern lebendige Menschen. Immer wieder geht uns etwas Neues auf, je länger wir darauf hören, je unterschiedlicher die Blickrichtung ist.

Die vier Figuren der Evangelisten sind sich sehr ähnlich. Der Künstler schreibt ihre Namen darunter: S.Matheus, S.Marus, S.Lucas und S.Joannis. Es sind einfache, bäuerliche Menschen, keine Herrenfiguren. Ihre Gewänder sind feierlich, festtagsmäßig. Von weitem betrachtet erinnern sie an die Säe-Tücher, aus denen der Landmann früher die Körner schöpfte, die er auf das Land streute. Näherkommend erkennt man jedoch, wie jeder von ihnen ein kleines Buch in der Hand hält, in der anderen einen Stift. So wird deutlich, dass sie als die Evangelisten gedacht sind: Sie schreiben auf, was Jesus sagt und tut und was er ist. Der Prediger aber legt bei seiner Tätigkeit dieses Wort für seine Zuhörer aus.

Unübersehbar ist die Fülle der Früchte, die das Ganze oben wie unten und in der Mitte zieren. Auch Blüten und Ranken sind zahlreich zu erkennen. Die Phantasie kann gar nicht genug blühen, um das alles wahrzunehmen. Es wirkt wie zufällig und willkürlich gestaltete Ornamente. Aber was da so füllig und reichlich und golden herabhängt, lässt uns nachsinnen über das Ziel aller Predigt und aller Verkündigung: Dass wir Frucht bringen hundert- und tausendfältig. Da ist Paradies, da ist Welt der Engel - nicht künftig und unerreichbar, sondern gegenwärtig und lebensnah. Der Künstler lässt diesen Gedanken sich konzentrieren in dem alleruntersten Gegenstand: Dort hängt eine Ananas-Frucht. Sie mag den Menschen seiner Zeit, so sie denn eine solche Frucht überhaupt je zu Gesichte bekamen, als der Inbegriff alles Schönen und Wohlschmeckenden und Paradiesischen vorgekommen sein.

Der mittlere Teil, der Raum für den Prediger.

Bei unserer Kanzel wird die Funktion gerade durch das hervorgehoben, was nicht gestaltet, was frei gelassen ist. Ein Brett im Hintergrund - man könnte die Form des Kreuzes darin angedeutet sehen - dient als optische Verbindung zwischen Deckel und Korpus. Hier erkennt man nur spärliche Ornamente: Zwei Engel rechts und links, zwei Fruchgehänge auch, aber alles zurückhaltend und sparsam. Durch die Zurückhaltung des Künstlers in diesem Bereich wird jedoch deutlich, wie wichtig das lebendige Wort eines Menschen für die Bezeugung des Evangeliums genommen wird. Nicht die Bretter, nicht die Steine, nicht die Farben, seien sie noch so schön gestaltet, bringen die Erlösung für die gequälte und geschundene Kreatur, sondern allein das lebendige Wort Gottes.

Zu jener Zeit trugen die Prediger vermutlich Perücken, und ihre Aufmachung, Wortwahl, Stimmentfaltung und Bewegung mag den barocken Formen dieser Kanzel viel eher entsprochen haben als unser heutiges Bemühen um Schlichtheit und Sparsamkeit des Ausdrucks. Alles war sicher sehr viel kunstvoller geprägt. Wir tun dem Künstler sicher kein Unrecht, wenn wir uns zum barocken Kanzelaufbau auch den entsprechenden Prediger vorstellen. Damit wird das Bild erst vollständig.

Dieses Werk ist nun über 300 Jahre alt. Es ist trotz seines Alters und seiner künstlerischen Qualität kein Museumsobjekt, denn es dient auch heute noch Sonntag für Sonntag seiner ursprünglichen Bestimmung. Menschlich gerechnet haben schon zehn Generationen darunter gesessen und der Predigt des Evangeliums zugehört, davon neun in Berndorf und eine (seit 1967) in Wellen. Die Zahl der Prediger, die dort ihres Amtes gewaltet haben, geht in die Dutzende oder vielleicht in die Hunderte, wenn man auch alle Vertretungen mit einbezieht. Auch in diesem Gedenken liegt eine Symbolkraft wie in der künstlerischen Gestaltung: Dass wir etwas verwalten und für die Zukunft erhalten, was dem Wort Gottes dient, von dem wir glauben, wie die Bibel sagt: „Es bleibt in Ewigkeit“.